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Lebensbegleitung Königsborn
 
 

Lebensbegleitung im Haus Königsborn
Konzepte und Praktiken in einer Langzeitpflegeeinrichtung für Menschen mit schweren Hirnschädigungen

Methodengeleitete Zusammenfassung:
 

In einer ethnografischen Studie erkundet wurde das "Haus Königsborn", eine Modell-Einrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen zur Betreuung von sogenannten Phase F-Patienten. Rekonstruiert wurde vor allem der dort vorfindliche Umgang mit Menschen im sogenannten Wachkoma. Im Zentrum unseres Erkenntnisinteresses standen dabei die Praktiken im Pflege- und Therapie-Alltag der Einrichtung, die wir nicht nur teilnehmend beobachtet, sondern an denen wir auch beobachtend teilgenommen haben.

Forschungsalltag I

Ein Mensch im chronifizierten sogenannten Wachkoma ist der Fall, über den wir uns der Fragestellung unserer Studie ursprünglich und von einer ganz bestimmten Perspektive her genähert haben. Dass dies nicht die Perspektive des Betroffenen, des im Wachkoma befindlichen Menschen selber sein kann, versteht sich von selber. Es geht bei dieser sozusagen ‚initialen' Perspektive vielmehr um die eines von Amts(gerichts) wegen mit der Betreuung beauftragten Angehörigen. Und die Übernahme eben dieser Funktion war dann tatsächlich auch der erste Schritt ins Feld:

Der mit der Betreuung betraute Angehörige trifft fast alle - insbesondere juristisch ebenso wie medizinisch relevanten - (Lebens-)Entscheidungen für den ihm ‚anvertrauten' Menschen im sogenannten Wachkoma. Er ist weniger Stellvertreter, denn Statt- bzw. Platzhalter dessen, den er betreut. Aus dieser Position heraus ist eine extrem intensive (im Grunde nur durch das eigene Zeitbudget des betreuenden Angehörigen eingeschränkt) Anwesenheit bei und (im Grunde nur durch die idiosynkratischen Restriktionen des betreuenden Angehörigen einge-schränkte) Praxis des Umgangs mit dem Menschen im sogenannten Wachkoma möglich, die eben auch die Generierung von Daten sowohl qua kaum eingeschränkten Beobachtungen als auch qua kaum eingeschränkter Teilhabe ermöglicht.

D.h., die Funktion und Position des betreuenden Angehörigen bietet nachgerade ideale Bedingungen für Dauerbeobachtungen zumindest eines Menschen Wachkoma. Die Beobachtungen können aus dieser Rolle heraus auch nachgerade jederzeit und nahezu problemlos kommunikativ (v.a. verbal-kommunikativ) mit Pflegekräften und Therapeuten sowie mit anderen Besuchern dieses Menschen, darüber hinaus aber auch mit den Angehörigen anderer Bewohner der Einrichtung sowie mit der einschlägigen Fach- und Betroffenheitsliteratur, abgeglichen werden. Wenigstens ebenso günstige Bedingungen schafft diese Funktion und Position aber auch für Selbstbeobachtungen und Selbstreflexionen als in das (zunächst einmal als ausgesprochen ereignisarm erscheinende) Geschehen in verschiedener Hinsicht stark involviertes Subjekt. Diese subjektiven Erlebensdaten (und hierbei insbesondere die first-order-Frage nach den Befindlichkeiten des Menschen im sogenannten Wachkoma, um den es einem zu tun ist) erfordern- zur Vermeidung nahe-liegender betroffenheitslyrischer Mystifizierungen - u.E. unbedingt eine (körperausdrucksanalytisch informierte) phänomenologische Klärung ihrer Evidenz.

Forschungsalltag II

Unser zweiter Schritt ins Feld war die - mit der Leitung und mit der Belegschaft der Einrichtung abgesprochene - ‚Installation' eines Sozialwissenschaftlers als einem wissbegierigen und praktisch engagierten Quasi-Anlernling im Schichtbetrieb des Pflegedienstes. Die forschungslogische Aufgabe dieses Quasi-Anlernlings ist zum einen, beim Mit-Gehen im Einrichtungsalltag organisatorische Struktur- und Rahmenbedingungen sowie beobachtbare Arbeitspraktiken, Interaktionsweisen und Aktivierungsstrategien im alltäglichen therapeutisch-pflegerisch-betreuerischen Umgang mit Menschen Wachkoma zu identifizieren und zu registrieren. Bei dem das Mit-Gehen transzendierenden Mit-Machen des Quasi-Anlernlings geht es uns zum anderen darum, das, was (die) Pflegekräfte, (die) Therapeuten und auch (die) Personen, die das Ganze verwalten, tun, quasi ‚intrinsisch' zu verstehen (und mit der Zeit auch ein quasi-kollegiales Vertrauensverhältnis aufzubauen). Unser dritter Schritt, ins Feld und im Feld, war der der ‚Transformation' einer in dieser Einrichtung erfahrenen und hochgradig engagierten Pflegekraft in eine distanzierte sozialwissenschaftliche Analytikerin, die die ‚lokale' Praxis und mithin auch ihre eigene Praxis sozusagen mit fremden Augen anschaut.

Die wesentlichste Aufgabe in dieser Praxis besteht in der direkten händischen Arbeit am Pflege- bzw. Therapiefall. Arbeitsorganisatorisch gesehen allerdings kommt dem alltäglichen Wissensmanagement bei diesem Schichtbetrieb nahe liegender Weise ebenfalls ein hoher Stellenwert zu. Und auch die Praxis dieses Wissensmanagements lässt sich nur qua kollegialem Mit-Machen erkunden, denn z.B. erfolgt die sogenannte ‚Übergabe' täglich im Dienstzimmer bei dezidiert geschlossener Tür. Dieses Ritual dient der Information der ihre Schicht Antretenden über etwelche Auffälligkeiten, Probleme und nichtroutinisiert zu Beachtendes bzw. zu Berücksichtigendes bei jedem einzelnen Patienten und bei sonstigen spezifischen und generellen Arbeitsaufgaben.

Auf der Basis solcherart alltäglicher Teilnahmen haben wir allmählich immer mehr uns auffällig gewordene oder fraglich gebliebene organisatorische Rahmenbedingungen und interaktive Routinen und Handlungsstrategien von Therapeuten und Pflegekräften erschlossen. Wir haben Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten in alltäglichen und kriseninduzierten Interaktionen erfasst und etwelche heuristischen efunde überprüft und modifiziert. Vor allem haben wir solche Therapie- und Pflegesituationen genauer angeschaut, die durch spezifische Arbeitsaufgaben gekennzeichnet sind (z.B. unterschiedliche therapeutische Maßnahmen, Körperpflege, Behandlungspflege, Transfers, Nahrungszufuhr bzw. Essensanreichungen, Begrüßungen, interaktionsbegleitende Verbalisationen, Verabschiedungen).

Aufruhend auf der praktisch engagierten Teilnahme am Pflege- und Therapie-Alltag, haben wir einen großen Teil der Gespräche mit den Professionals in Form eines mehr oder minder beiläufigen, kollegialen Miteinander-Redens geführt. Nur dort, wo wir im Mit-Machen den Eindruck gewannen, dass darüber hinausreichende bzw. -weisende relevante Fragen offen und klärungsbedürftig geblieben sind, haben wir Mitarbeiter gelegentlich um thematisch zentrierte Interviews gebeten. Diese konnten - insbesondere aufgrund der Erfahrungen als langjährig tätiger Pflegekraft - in der Regel als Experteninterviews im von uns vorge-schlagenen Sinne geführt werden: als Gespräche also ‚auf Augenhöhe' zwischen Experte und nicht ‚nur' Quasi-Experte, sondern tatsächlich einem anderen Experten im vollen Wortsinne.

Selbstverständlich haben wir auch alle verfügbaren und uns zugänglichen Dokumente analysiert und dergestalt die politische Vorgeschichte und die inzwischen fünfzehn Jahre dauernde institutionelle Geschichte der Einrichtung einschließlich entwicklungsstatistischer Daten sowie die medialen Präsentationen der Einrichtung rekonstruiert. Vor allem aber haben wir uns mit dem die Einrichtung und die Arbeit in der Einrichtung prägenden Pflege-, Therapie- und Betreuungskonzept, d.h. also sozusagen mit der ‚Philosophie des Hauses' befasst.

Diese ‚Philosophie' besagt - vereinfacht formuliert -, dass ‚alles', was geschieht, auf die (wie auch immer konstatierten) Belange des einzelnen in der Einrichtung betreuten Menschen abgestellt sein soll, dass er den je mit ihm befassten Therapeuten und Pflegekräfte Geschwindigkeit und Rhythmus für (Inter-)Aktivitäten vorgeben, dass er hier nicht Patient, sondern dass er eben vor allem Bewohner sein soll, der sein Lebenszentrum in der Einrich-tung hat, der hier also "zu Hause" ist, und dass Besucher (und auch Angehörige gelten als Besucher) zwar jederzeit (und tatsächlich zu jeder Zeit, denn es gibt keinerlei formale Einschränkungen der Besuchszeiten) willkommen sein, dass sie aber nicht als ‚essentiell' für den Alltag des Bewohners, sondern eher als bereichernde Abwechslung begriffen werden sollen. Die gesamte Konzeption des Hauses ist ideell, organisatorisch und personell am Prinzip der "dialogischen Begleitung" (d.h.: nicht Fordern, sondern Fördern) des Bewohners dabei seine besondere Lebensform und Lebensart zu finden, ausgerichtet.

Naheliegender Weise interessieren wir uns nachdrücklich und anhaltend dafür, in welchem Verhältnis diese ‚Philosophie' zur alltäglichen Pflege- und Therapiepraxis und dabei auch zu der diese ‚begleitenden', von der Belegschaft der Einrichtung gepflegten spezifischen bzw. lokalidiosynkratischen Semantik steht. Und gerade weil das die Körperlichkeit betonende Gesamtkonzept unter den Mitarbeitern in der Einrichtung (hinlänglich) konsensuell zu sein scheint, war es denn auch unabdingbar, das oft subtile Wechselverhältnis zwischen Therapeuten und Pflegekräften hier und den von ihnen betreuten Menschen da genau zu beobachten, um so bei den Professionals augenscheinlich daraus ‚erwachsende' Deutungen der (Befindlichkeiten der) Bewohner zu verstehen.

Eine (zumindest) lokalidiosynkratische Begriffslücke

Auffällig ist z.B., dass in der Semantik der Belegschaft der von uns ethnographierten Einrichtung die schulmedizinisch üblichen Kategorisierungen von Phase F-Patienten (so gut wie) keine Rolle spielen. Gleichwohl kommt man als Beobachter nicht umhin, zu konstatieren, dass in dieser Einrichtung unübersehbar Menschen mit augenfällig unterschiedlichen Fähigkeiten leben: Man trifft auf Bewohner, die selber essen, auf Bewohner, die sprechen (können), auf Bewohner, die sich im Rollstuhl selber bewegen können (und immer wieder auch auf solche, die wieder lernen, zu stehen und zu gehen). Man trifft aber eben auch auf Bewohner, die gefüttert werden müssen, auf Bewohner, die sich zwar quasi-verbalisierend äußern, deren Verbalisierungen aber für andere schwer oder gar nicht verständlich sind, auf völlig stumme Bewohner und auf Bewohner, die sich überhaupt nicht selber bewegen kön-nen. (Fast) alle Bewohner haben irgendwelche Prothesen (Rollstuhl, orthopädisches Schuhwerk, Armorthesen usw.). Manche Bewohner haben eine Trachealkanüle und müssen über eine Bauchsonde mit Flüssignahrung versorgt werden. Viele haben einen Urin-Katheter. Ein beträchtlicher Teil der Bewohner reagiert nicht "verlässlich" oder (so gut wie) gar nicht auf Ansprache und nur bedingt (teilweise und manchmal) auf Reize wie Geräusche, Bewegungen, Berührungen usw. Und man trifft auf Bewohner, bei denen es zumindest extrem schwierig ist, überhaupt (irgend) eine Relation zu konstatieren zwischen dem, was sich an ihnen beobachten lässt, und dem, was um sie her vorgeht.

D.h. also: Auch wenn die entsprechenden Begriffe sowohl im Kontext des praktischen Tuns als auch in den Rede-Weisen der hier von uns untersuchten Belegschaft (so gut wie) nie auftauchen: Menschen, die die beiden zuletzt genannten Merkmale aufweisen, werden im medizinischen Diskurs als "apallisch", als in einem "permanent vegetative state" bzw. "persis-tent vegetative state" oder allenfalls als in einem "minimally conscious state" befindlich bezeichnet. Im Diskurs von Pflege und Therapie (und in der sogenannten Beziehungsmedizin) generell ist "Wachkoma" der eindeutig dominierende Begriff dafür. Und auch die Betroffenen und ihre Selbsthilfe- und Lobby-Organisationen sprechen in aller Regel von "Wachkoma".

Explikation des Impliziten

Im Zentrum des Forschungsinteresses dieser Studie stand also die Frage, ob und ggf. wie (d.h. aufgrund welcher ‚Indizien' und Indikatoren) wir erkennen können, ob wir es bei Menschen im sogenannten Wachkoma mit "menschlichem Gemüse", mit einem "Hirn-stammwesen" oder mit einem Akteur, einem Subjekt, einer Person oder womöglich mit irgend etwas ‚dazwischen' zu tun haben. Kurz, wir versuchen eine Folie zu gewinnen, auf der wir abbilden können, wann und warum einem Menschen im Wachkoma von wem attestiert wird, er sei ein Anderer, ein zumindest zu Reaktionen (auf Reize) oder ein gar zu (basalen) Interaktionen fähiges ‚Gegenüber'. Analytisch unverzichtbar ist dabei, der ‚Gefühligkeit', die nicht nur dem betreuenden Angehörigen typischerweise quasi-naturwüchsig eignet, sondern die - im Gegensatz zur ‚mitleidslosen' diagnostisch-therapeutischen Semantik der Schul- bzw. Biomedizin - auch ganz massiv das Feld des Pflege-, Therapie-, Angehörigen- und Beziehungsmediziner-Diskurses kennzeichnet, und die unüberhörbar - und sogar unü-bersehbar - auch die händischen Praktiken und die Redeweisen der Belegschaft der von uns ethnographierten Einrichtung prägt, mit maximal möglicher epistemologischer Skepsis zu begegnen. Und das heißt, dass erst die phänomenologischen Reflexionen der Erlebensdaten die in der Praxis symptomatischer Weise implizite, von uns aber eben explizit gestellte Frage fundieren, wie sich bei (den) Professionals handlungsleitende Annahmen darüber konstituieren, was ‚im Sinne' der - nach externen Kriterien - im Zustand "Wachkoma" befindlichen Bewohner, mit denen sie je zu tun haben, zu geschehen oder eben zu un-terbleiben hat.

Diese Explikation des alltäglich Impliziten ist zum einen eine ausgesprochen sensibel zu handhabende Aufgabe des - mit-machenden und entsprechende Erläuterungen bei seinen Gesprächspartnern evozierenden - Ethnographen schlechthin. Ausgesprochen sensibel ist dieses Evozieren von Explikationen v.a. deshalb zu handhaben, weil die Professionals diese (Art von) Wahrnehmungen allem Anschein nach zwar machen (und wohl auch typisieren), weil sie typischerweise aber eben nicht hinterfragen, wie sie sie machen bzw. warum sie glauben bzw. sicher sind, dass sie sie gemacht haben. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Jedenfalls sind die Professionals, mit denen wir zu tun haben, in aller Regel nicht darauf ein-gestellt, jemandem, der ‚dumm' nachfragt, qua Erläuterung verständlich bzw. nachvollziehbar zu machen, was da an für sie auf etwas (‚Anderes') hinweisend Wahrnehmbarem vor sich geht. Und nicht zuletzt deshalb ist die Explikation des Impliziten zum anderen eines der zentralen Erkenntnisinteressen der - körperausdrucksanalytisch informierten - phänomenologischen Beschreibung von Erlebensdaten der Forscher im Rahmen einer bzw. dieser in der Tradition von Anne Honer als "lebensweltanalytisch" begriffenen Ethnographie. Durchgeführt wurde die Studie von Corinna Iris Leuschner, Dr. Frank Mücher und Prof. Dr. Ronald Hitzler in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Annette Grewe und Prof. Dr. Helma Bleses (beide Hochschule Fulda), Dr. Ansgar Herkenrath (Haus Königsborn, Unna) sowie mit Dr. Thomas Beer (EVIM Gemeinnützige Altenhilfe GmbH, Wiesbaden).

Publikation:

Hitzler, Ronald/Leuschner, Corinna Iris/Mücher, Frank (2013): Lebensbegleitung im Haus Königsborn. Konzepte und Praktiken in einer Langzeitpflegeeinrichtung für Menschen mit schweren Hirnschädigungen (Reihe ‚Grenzgebiete des Sozialen‘). Weinheim, Basel: Beltz Juventa

Hitzler, Ronald (2012): Grenzen der Entblößung – oder: Was nützen Bilder, die man nicht zeigen darf oder will. In: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der DGS in Frankfurt a.M. 2010. Wiesbaden: Springer (CD-ROM

Hitzler, Ronald/Mücher, Frank (2012): Die professionelle Konstruktion der Person. Strategien therapeutisch-pflegerischer Bewältigung existenzieller Katastrophen am Beispiel des Umgangs mit Wachkoma-Patienten. In: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der DGS in Frankfurt a.M. 2010. Wiesbaden: Springer (CD-ROM)

Kontakt:
Prof. Dr. Ronald Hitzler
 

 
 
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