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Die Ordnung der assistierenden Interaktion
 
 

Die Ordnung der assistierenden Interaktion
Videographische Analyse von Pflegesituationen


Kurzbeschreibung des Projekts:

Das aus der „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ hervorgegangene Modell der „Persönlichen Assistenz“ soll seiner Konzeption nach die Emanzipation körperbehinderter Menschen vorantreiben helfen – eben mittels der Inanspruchnahme von „Persönlichen Assistenten“, die körperbehinderten Menschen zur Seite stehen (sollen), wenn und genau so, wie diese es wünschen. „Persönliche Assistenz“ stellt ein explizites Gegenmodell dar zur herkömmlichen, von vielen körperbehinderten Menschen als bevormundend erlebten Pflege und Unterstützung durch professionelle Fachkräfte. Ihm kommt nun insofern möglicherweise eine Vorreiterrolle zu, als es in seiner gewissermaßen ‚radikalen’ Ausprägung bisher einzigartig unter den verschiedenen Möglichkeiten, (pflegerisch-assistierende) Unterstützung in Anspruch zu nehmen, scheint: Die Verfechter der Assistenzidee lehnen das Moment der Fürsorge, dem die herkömmliche Pflege nach wie vor verpflichtet ist, ausdrücklich ab und ersetzen es fast voll-ständig durch das Modell des selbstbestimmten Assistenznehmers. Die Selbstbestimmung der Assistenznehmer zu befördern stellt also nicht ein Ziel neben anderen dar, sondern ist vorrangige und erklärte Absicht des Modells. Bereits die Terminologie ist an dieser Stelle aufschlussreich: Denn der Idee nach sind Assistenznehmer nicht einfach nur passive Empfänger von Unterstützungsleistungen, sondern nehmen – aktiv – Assistenz. Im Rahmen dieses Modells treten Assistenznehmer ihren Assistenten gegenüber als Arbeitgeber auf. Um Assistenz sinnvoll in Anspruch nehmen zu können, sollten die Assistenznehmer über Personalkompetenz, Finanzkompetenz, Organisationskompetenz sowie Anleitungskompetenz verfügen. Während mit den drei zuerst genannten Kompetenzen die Notwendigkeit angesprochen ist, arbeitsorganisatorischen Rahmenerfordernissen Genüge zu tun – also zum Beispiel passendes Personal zu finden, einzustellen und zu entlohnen sowie die jeweiligen Dienstzeiten zu planen und personell zu besetzen –, bezieht sich das Erfordernis der Anleitungskompetenz auf die in der Assistenzsituation unmittelbar stattfindenden Interaktionen. Gemeint ist, dass die Hilfeleistungen nach den Wünschen und Vorgaben der Assistenznehmer erfolgen sollen, und dass Letztere demzufolge in der Lage sein müssen, ihre Assistenten bei ihrer Arbeit (die über die körperliche Pflege hinaus geht und die Gestaltung sämtlicher Lebensbereiche umfassen kann) entsprechend anzuleiten.

Im Rahmen dieses Forschungsprojektes wurde nun der Frage nachgegangen, was es aus handlungspraktischer Sicht bedeutet, interaktiv die Selbstbestimmung des Assistenznehmers zu gewährleisten. Ziel dieser Untersuchung war somit, die alltagspraktische, soziale Realität der Interaktionsbeziehungen bzw. die „Interaktionsordnung“ (Goffman, Erving: Die Interaktionsordnung. In: ders.: Interaktion und Geschlecht. Frankfurt a. M.: Campus, 1994, S. 50-104) in der Persönlichen Assistenz kör-perbehinderter Menschen, die diesen zu einem selbstbestimmten Leben verhelfen soll, zu rekonstruieren. Gefragt wurde einerseits nach der ‚Normalität’ der Interaktionen in der Persönlichen Assistenz – im Sinne von Routinen und Interaktionsregelmäßigkeiten (bzw. -mustern) –, andererseits aber auch nach den Schwierigkeiten bzw. Irritationen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, sowie danach, auf welche Weise sie in der sprachlich-körperlichen Interaktion zum Tragen kommen. Berücksichtigt werden mussten also nicht nur sprachliche, sondern in besonderem Maße auch körperliche Aspekte der Interaktion.

Der aufgeworfenen Fragestellung wurde mithilfe eines methodischen Vorgehens nachgespürt, das in seinen wesentlichen Zügen dem entspricht, was Hubert Knoblauch als „fokussierte Ethnographie“ (Knoblauch, Hubert: Fokussierte Ethnographie. In: Sozialer Sinn 1, 2001, S. 123-141) bezeichnet hat. Dieses von uns angewandte Verfahren war durch kurzfristige Feldaufenthalte gekennzeichnet, in denen die interessierenden interaktiven Aktivitäten per Videoaufnahmen aufgezeichnet und im Forscherteam ausgewertet wurden. Zusätzlich wurden teilnehmende Beobachtungen sowie gering standardisierte, mithin fokussierte Interviews mit den Beteiligten durchgeführt. Als Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund die Besonderheiten von Assistenzinteraktionen rekonstruiert werden sollten, wurden zudem Szenen von Interaktionen in der häuslichen ambulanten Pflege beobachtet und per Video aufgenommen sowie Interviews mit Beteiligten geführt.

Die Ergebnisse der Untersuchung insgesamt zeigen nun, dass sich die Interaktionen in der Persönlichen Assistenz tatsächlich, wie von der Assistenzidee vorgesehen, nach den Relevanzen der Assistenznehmern richten. Allerdings sind die von uns untersuchten Assistenzinteraktionen vielgestaltiger, als das Modell zunächst vermuten lässt. Die Inanspruchnahme von Persönlicher Assistenz eröffnet offenbar verschiedene Möglichkeiten, die „Selbstbestimmung“ von Assistenznehmern zu realisieren: Die in die Untersuchung einbezogenen Assistenznehmerinnen nutzen die Möglichkeiten, die ihnen die Inanspruchnahme von Assistenz bietet, so, dass ihren grundlegenden Relevanzen zur Geltung verholfen wird. Dies kann sich auch entgegen der Idee des Assistenzkonzeptes dahin gehend auswirken, dass in bestimmten Situationen regelmäßig gerade keine Anleitung erfolgt. Und es kann sogar so weit gehen, dass ein Assistent in seiner Anwesenheit sowohl sprachlich als auch nonverbal von der Assistenznehmerin ausgeblendet wird, obwohl er gleichzeitig als Assistent in Anspruch genommen wird. Es genügt – mit Blick auf die Selbstbestimmungsidee des Assistenzkonzeptes – also nicht, die Selbstbestimmtheit eines Assistenznehmerin daran zu messen, wie vorbildlich und (idealerweise sprachlich) präzise sie ihre Assistentinnen auf der einen Seite anleitet und wie genau und gefügig diese ihre Vorgaben auf der anderen Seite umsetzen. Der Blick auf die Details von Assistenzinteraktionen zeigt, dass der Spielraum, die einzelnen Interaktionen zu gestalten, wesentlich größer ist, als es konzeptionell vorgesehen ist – eben deshalb, weil die einzelnen Charaktere jeweils unterschiedliche Relevanzen setzen und weil diese Relevanzen mehr umfassen als das reine Anleiten und Umsetzen von konkreten Vorgaben.

Wenn das Assistenzmodell also eine (wenn möglich sprachlich) präzise Anleitung der Assistentin durch die Assistenznehmerin sowie die möglichst genaue und widerspruchsfreie Umsetzung dieser Vorgaben durch die Assistentin vorsieht, dann ist hiermit bereits eine ziemlich weitreichende Kontrollbefugnis bzw. ‚Befehlsgewalt’ der Assistenznehmerin, die direkten Interaktionen zwischen ihr und ihrer Assistentin betreffend, erreicht. In den tatsächlich statthabenden Interaktionen aber scheint eine sogar noch weiterreichende Anpassung der Assistentin an die Relevanzen der Assistenznehmerin möglich zu sein. Die Selbstbestimmung der Assistenznehmerin wird in Assistenzinteraktionen somit tatsächlich durch eine (konzeptuell beabsichtigte) ziemlich weitgehende (allerdings freiwillige und insofern wiederum: selbstbestimmte) Fremdbestimmung der Assistentin, mithin sogar durch deren Instrumentalisierung, erreicht. Die Autonomie der Assistentin spielt in den vorgefundenen Assistenzinteraktionen eine tendenziell untergeordnete Rolle. Möglich ist dies vor dem Hintergrund der Akzeptanz des deklarierten Anspruches auf Selbstbestimmung der Assistenznehmerin und außerdem natürlich innerhalb bestimmter Grenzen der Assistentin. Empirisch vorfindbar ist also eine Form von Selbstbestimmtheit, die sowohl die Hilfe einer anderen Person als auch die Fremdbestimmung über eben diese Person durch die Assistenznehmerin beinhaltet. Als Assistentin zu arbeiten impliziert demzufolge, sich in weitreichender Weise den Relevanzen der Assistenznehmerin unterzuordnen. Assistenznehmerin zu sein heißt, diesen Relevanzen – mit welchen interaktiven Techniken auch immer („Extremfälle“, die prinzipiell die Grenzen von Assistentinnen überschreiten, seien an dieser Stelle einmal 'weggedacht') – zur Geltung zu verhelfen.

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt ist abgeschlossen. Ein Abschlussbericht liegt vor.

Projektlaufzeit: 01.04.2006 - 31.03.2008

Kontakt:
Dr. Lakshmi Kotsch

Publikationen:

Kotsch, Lakshmi (2012): Assistenzinteraktionen. Zur Interaktionsordnung in der Persönlichen Assistenz körperbehinderter Menschen. Dissertation. Wiesbaden: VS Verlag.

Kotsch, Lakshmi/Altenschmidt, Karsten (2008): "Assistenz-Experten"? oder: Zur "Entexpertisierung" der bisherigen Experten in der persönlichen Assistenz Körperbehinderter. In: Tagungsband des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (auf CD-Rom).

Altenschmidt, Karsten/Kotsch, Lakshmi (2007): "Sind meine ersten Eier, die ich koche, ja". Zur interaktiven Konstruktion von Selbstbestimmung in der Persönlichen Assistenz körperbehinderter Menschen. In: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hrsg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript Verlag. S. 225-247.

 

 
 
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