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Globalisierungskritiker:
Eine 'bewegte Szene'?
 
 
 
Globalisierungskritiker:
Eine 'bewegte Szene'?

 

Kurzbeschreibung des Projekts:

Im Winter 1999 demonstrierten anlässlich einer Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) rund 50.000 Menschen im Nord-Westen der USA gegen die in ihren Augen negativen Auswirkungen der 'neoliberalen Globalisierung'. Diese sogenannte 'Battle of Seattle' gilt als Geburtsstunde einer Protestform, die vereinfacht als globalisierungskritische 'Bewegung' bezeichnet wird und die in der Folgezeit sprunghaft an Bedeutung gewonnen hat. In den Medien wird zumeist ein Bild von den Globalisierungskritikern gezeichnet, das von der Hoffnung der jeweiligen Autoren auf eine 'neuartige' politische und kulturelle Kraft dieser 'Bewegung' geprägt ist. Einerseits besteht diese Hoffnung darin, dass es der Globalisierungskritikerschaft gelingt, die immer häufiger konstatierten Demokratie- und Gerechtigkeitsdefizite im Rahmen transnationaler Politik zu reduzieren oder zumindest nachhaltig zu thematisieren, andererseits richtet sich diese Hoffnung darauf, dass innerhalb der globalisierungskritischen 'Bewegung' jugendliches 'Spaß-Haben' und gesellschaftliches Engagement zu einem neuen 'Zeitgeist' verschmelzen.

Das zentrale Erkenntnisinteresse des Forschungsprojekts richtete sich darauf, zu klären, ob bzw. inwiefern diese medialen Zuschreibungen zutreffen. Das heißt, es wurde der Frage nachgegangen, ob es sich bei den Globalisierungskritikern, die keineswegs eine homogene Gruppe von 'Aktivisten' bilden, sondern ausgesprochen unterschiedliche politische Orientierungen 'beheimaten', tatsächlich um eine neuartige politische und kulturelle Kraft handelt. Darauf abzielend, die Besonderheiten und Neuartigkeiten der 'Globalisierungskritikerschaft' sowohl im Hinblick auf typische (alltags-)kulturelle Praktiken einschlägig engagierter Akteure als auch in Bezug auf die organisatorische und institutionelle Struktur der Globalisierungskritikerschaft zu erfassen und zu beschreiben, wurde die Fragestellung – basierend auf zentralen Forschungsinteressen und Erkenntnissen aus der Bewegungs- und Szenenforschung – auf zwei Analyseebenen konkretisiert:

(1) Auf der Handlungsebene lautete die zentrale Fragestellung, ob es sich bei Globalisierungskritikern um ästhetisch orientierte Szenegänger, engagierte Bewegungsakteure oder aber um 'engagierte Szenegänger' handelt. Zur Beantwortung dieser Frage wurden die (alltags-) kulturellen Praktiken globalisierungskritischer Akteure, die sich in je typischen Deutungs- und Handlungsmustern, Relevanzen, Einstellungen und Wissensbeständen manifestieren, rekonstruiert.

(2) Auf der Strukturebene bestand das Erkenntnisinteresse darin, die organisatorischen und institutionellen Strukturen der Globalisierungskritikerschaft samt ihrer Einbettung in mediale, politische und wirtschaftliche Kontexte zu rekonstruieren, und zwar insbesondere im Hinblick darauf, ob die strukturellen Eigenschaften der Globalisierungskritikerschaft der organisatorischen und institutionellen Struktur von neuen sozialen Bewegungen oder eher der von Szenen entsprechen; ob also eher von einer neuen sozialen Bewegung, von einer Szene oder von einer 'bewegten Szene' gesprochen werden kann.

Die beiden Analyseebenen zueinander in Bezug setzend wurde untersucht, welche (kollektiven) Akteure im Rückgriff auf welche Gemeinsamkeiten sich innerhalb der Globalisierungskritikerschaft segmentieren, auf welche (kollektiven) Protest-, Mobilisierungs-, Partizipations-, (Selbst-) Stilisierungs- und Kommunikationspraxen zurückgegriffen wird, welche (kollektiven) Ideologien und Zielvorstellungen dabei wie kommuniziert werden, welchen typischen Relevanzen, Einstellungen und Wissensbeständen diese aufruhen und welche institutionellen und organisatorischen Muster daraus resultieren.

Empirisch umgesetzt wurde dies, indem die Analysen auf drei zentrale Erhebungsfelder fokussiert wurden: (1) Das globalisierungskritische Netzwerk 'Attac', (2) globalisierungskritische Protestveranstaltungen und (3) globalisierungskritische (Bildungs-) Kongresse. Im Rekurs auf ein methodenplurales Erhebungsdesign, welches nicht-standardisierte und standardisierte Methoden integrierte, wurden in diesen Erhebungsfeldern teilnehmende Beobachtungen und beobachtende Teilnahmen, Leitfadeninterviews, Dokumentenanalysen und eine netzwerkanalytische Online-Befragung durchgeführt.


Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse

Im Projekt konnten tatsächlich neu(artig)e Kennzeichen der Globalisierungskritikerschaft sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Strukturebene herausgearbeitet werden.

(1) Handlungsebene: Die zentrale Neuartigkeit auf der Handlungsebene manifestiert sich darin, dass die Globalisierungskritikerschaft Akteuren einen Raum bietet, in dessen Rahmen sie sich ihre individuelle gesellschaftskritische Existenz – basierend auf einer thematischen 'Verführung' – zusammenbasteln können. Dabei zeigen sich sowohl thematische 'Verführungen' innerhalb der Globalisierungskritikerschaft als auch motivationale 'Verführungen' zum globalisierungskritischen Engagement.

Thematische Verführungen: Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Globalisierungskritikerschaft in besonderer Weise dem Bedürfnis des unter Individualisierungsbedingungen aus überkommenen Bindungen freigesetzten 'juvenilen' Menschen nach gelingenden und sinnstiftenden Vergemeinschaftungen entgegenkommt. Die für die Globalisierungskritikerschaft symptomatische, außergewöhnlich starke 'interne' Pluralität bzw. Pluralisierung der Weltverständnisse ermöglicht den sich hier engagierenden Akteuren eine hochgradig individuelle Ausgestaltung ihrer 'gesellschaftskritischen Existenz'. Zu welchem Thema, auf welche Art und Weise und in welcher Intensität er sich engagiert, bleibt jedem Akteur selber überlassen. Dennoch bietet das gemeinsame sinn- und identitätsstiftende thematische 'Dach' genügend Anknüpfungspunkte zur Ausbildung eines 'Wir-Gefühls'.

Motivationale Verführungen: Die Motivlagen globalisierungskritischer Akteure zeichnen sich dadurch aus, dass es sich immer um einen 'Motive-Mix' aus gesellschaftskritisch ideellen und egoistischen bzw. egozentrischen Motiven handelt. Hier wird deutlich, dass Gesellschaftskritik in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht mehr alleine auf der Basis eines (re-)moralisierenden, gemeinsinnigen Einstellungsmusters betrieben wird, sondern dass zunehmend wichtiger wird, welcher persönliche Gewinn sich für den einzelnen Akteur durch sein Engagement ergibt. Globalisierungskritiker wollen allerdings keinen monetären oder materiellen Gewinn erzielen. Vielmehr streben sie nach einer Verbesserung ihrer persönlichen Lebensumstände, nach individueller Weiterentwicklung, nach sozialen Geselligkeiten oder nach der Befriedigung ihrer hedonistischen Bedürfnisse. D.h. gesellschaftskritisches Engagement fungiert für die Akteure immer auch als 'Selbstverwirklichungsinstrument'.

Die Globalisierungskritikerschaft kann somit als eine gesellschaftskritisch fokussierte Form posttraditionaler Vergemeinschaftung betrachtet werden, in deren Rahmen sich sowohl neue Möglichkeitsräume eröffnen als auch neue Spannungsfelder ergeben.

(2) Strukturebene: Die zentrale Neuartigkeit 'auf der Strukturebene' manifestiert sich – basierend auf der Erkenntnis, dass 'Globalisierungskritik' zunehmend als 'Dach' überaus heterogener Gesellschaftskritiken fungiert – darin, dass die szenenförmige, global verzweigte und insbesondere medial vermittelte Netzwerkarchitektur der Globalisierungskritikerschaft sich nicht nur als Netzwerk von globalisierungskritischen Gruppierungen darstellt, sondern sich als 'Netzwerk von Bewegungsnetzwerken' erweitert, wodurch sich insbesondere die Mobilisierungsbasis erheblich vergrößert. Diese neuartige Form der Netzwerkstruktur ermöglicht also, dass für (nahezu) jedes gesellschaftskritische Thema eine breite transnationale Mobilisierungsbasis zur Verfügung steht. Auf diese Art und Weise können je nach 'Protestbedarf' die unterschiedlichsten (kollektiven) Akteure mobilisiert werden. Das heißt, die Globalisierungskritikerschaft kann wesentlich effizienter und häufig auch massenhafter zur Teilnahme an gesellschaftskritischem Protest mobilisieren als andere neue soziale Bewegungen.

Erfolge der Globalisierungskritikerschaft manifestieren sich zum einen darin, dass zentrale globalisierungskritische Themen mittlerweile Eingang sowohl in den medialen als auch in den politischen Diskurs gefunden haben. Zum anderen gelingt es der Globalisierungskritikerschaft (wenn auch zumeist eher auf lokaler bzw. regionaler Ebene), konkrete gesellschaftliche Veränderungen zu evozieren.

Die beiden Analyseebenen in Bezug zueinander setzend, lässt sich konstatieren, dass in der Globalisierungskritikerschaft typische Handlungs- und Strukturmuster von Szenen mit typischen Handlungs- und Strukturmustern von neuen sozialen Bewegungen tatsächlich auf eine neue Art und Weise miteinander kombiniert werden. Dergestalt konstituiert sich die Globalisierungskritikerschaft – insbesondere unter Modernisierungsbedingungen – als durchsetzungsfähiger politischer Kollektiv-Akteur, einer zwar aus unterschiedlichen Traditionsformen herleitbarer, gleichwohl anhaltend lediglich vagen 'Identität'.

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt ist abgeschlossen. Ein Abschlussbericht liegt vor.

Projektlaufzeit: 01.09.2003 – 30.04.2006

Kontakt:
Dr. Arne Niederbacher


Publikationen:

Bemerburg, Ivonne/Niederbacher, Arne (Hrsg.) (2007): Die Globalisierung und ihre Kritik(er): Zum Stand der aktuellen Globalisierungsdebatte. Wiesbaden: VS Verlag.

Bemerburg, Ivonne/Niederbacher, Arne (2007): Globalisierung und Langsicht. In: Bemerburg, Ivonne/Niederbacher, Arne (Hrsg.): Die Globalisierung und ihre Kritik(er): Zum Stand der aktuellen Globalisierungsdebatte. Wiesbaden: VS Verlag. S. 7-16.

Bemerburg, Ivonne/Niederbacher, Arne (2007): Globalisierungskritiker in Deutschland: Zwischen moralisch ambitionierter Kritik und professionalisierter politischer Arbeit. In: Bemerburg, Ivonne/Niederbacher, Arne (Hrsg.): Die Globalisierung und ihre Kritik(er): Zum Stand der aktuellen Globalisierungsdebatte. Wiesbaden: VS Verlag. S. 233-246.

Niederbacher, Arne (2008): Kompetenzerwerb am Beispiel der globalisierungskritischen Bewegung. In: Hunner-Kreisel, Christine/Schäfer, Arne/Witte, Matthias D. Witte (Hrsg.): Jugend – Bildung – Globalisierung. Weinheim/München: Juventa. S.211-227.

 

 

 
 
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