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Das Geflecht aktiver Bürger
 
  Das Geflecht aktiver Bürger.
Eine explorative Studie zur Funktionsweise von Zivilgesellschaft

gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Laufzeit: Juli 2003 bis August 2005

Bearbeitung: Prof. Dr. Ludgera Vogt und PD Dr. Wolfgang Bergem

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts

 

Das Forschungsinteresse des Projekts galt der konkreten Funktionsweise von Bürgergesellschaft unter den Bedingungen von Individualisierung und reflexiver Modernisierung. Die leitende Fragestellung lautete: Unter welchen Bedingungen, in welchen institutionellen, sozialen und biografischen Konstellationen kommt es zum freiwilligen Engagement von Bürgern für eine gemeinnützige Sache?

 

Ziel des Projekts war es daher, im Rahmen einer explorativ angelegten, interpretativen Stadt-Studie zu einer Kommune im nördlichen Ruhrgebiet das Geflecht aus Organisationen, Gruppen und individuellen Akteuren zu analysieren und dabei fördernde wie hemmende Faktoren von Bürgergesellschaft offenzulegen. Im Zentrum des Forschungsinteresses lagen folgende Dimensionen:

(1)     Was sind die Motive und die handlungsleitenden Nutzenkalküle der Akteure (im weiteren Sinne, inklusive Sinn- und Identitätsstiftung).

(2)     Welches sind die erkennbaren Karrieremuster für die Aktiven in der Bürgergesellschaft (vor allem im Verlauf zwischen Familien-, Erwerbs- und freiwilliger Arbeit)?

(3)     Welche Rolle spielen Geselligkeits- und Vergemeinschaftungskontexte, wobei auch Prozesse der sozialen Schließung und der Elitenbildung zu berücksichtigen sind?

(4)     Welche Voraussetzungen müssen Akteure mitbringen, wenn sie in der Bürgergesellschaft aktiv werden und erfolgreich handeln wollen? Hier wird der Blick auf die häufig übersehenen Probleme von sozialen Ungleichheiten und Partizipationsasymmetrien in der Bürgergesellschaft gelenkt.

(5)     Schließlich wurde untersucht, wie die „Passung“ zwischen gewandelten individuellen Dispositionen und organisatorischen Strukturen jeweils hergestellt wird.

 

Zur Erhellung dieser Dimensionen stellte die Stadt-Studie drei Organisationen des kommunalen Geflechts in den Mittelpunkt. Untersucht wurden zum einen zwei Ausprägungen der Organisationskultur, die sich deutlich von der dominanten etatistischen Tradition des Dritten Sektors in Deutschland abheben: eine Freiwilligenagentur und eine Bürgerstiftung. Neben diesen Institutionalisierungsformen der „neuen Bürgergesellschaft“ wurde eine typische Organisation der „alten“, korporatistisch geprägten Bürgergesellschaft in Deutschland untersucht: der Caritasverband und damit ein Repräsentant des historischen Erfolgsmodells deutscher Verbändewohlfahrt. Gerade im Vergleich von alten und neuen Institutionalisierungsformen konnten die hemmenden und begünstigenden Faktoren zivilgesellschaftlicher Selbststeuerung in der deutschen Gegenwartsgesellschaft explorativ erforscht werden.

 

 

Zusammenfassung des Abschlussberichts

 

Gegenstand des Forschungsprojekts war das konkrete Funktionieren von Zivilgesellschaft unter den von Individualisierung und reflexiver Modernisierung gesetzten Bedingungen. Um die Determinanten freiwilligen Engagements von Bürgern und damit förderliche wie hemmende Faktoren von Bürgergesellschaft zu erhellen, analysiert die explorative und interpretative Studie über eine Stadt im nördlichen Ruhrgebiet das kommunale Geflecht aus Organisationen, Gruppen und einzelnen Akteuren, das die Freiwilligenszene prägt. Im Zentrum der empirisch auf 74 leitfadengestützten Interviews und einer Dokumentenanalyse vor allem der Presse­öffentlichkeit basierenden Untersuchung stehen eine Freiwilligenagentur, eine Bürgerstiftung sowie der örtliche Caritasverband, somit zwei Organisationen der „neuen“ und eine Insti­tution der „alten“ Bürgergesellschaft in Deutschland. Anhand dieser Einrichtungen thematisiert das Projekt die Motive, Nutzenkalküle und Karrieremuster der Akteure ebenso wie die Bedeu­tung von Vergemeinschaftung, Geselligkeit, sozialer Schließung und Elitenbildung. Schließlich werden die individuellen Voraussetzungen erfolgreicher Akteure und die Wege zur „Passung“ zwischen gewandelten individuellen Dispositionen und organisatorischen Strukturen analysiert.

 

Die Stadt-Studie weist Bürgergesellschaft auf der Ebene der Kommune als plurales Phäno­men aus, in dem sich traditionelle Tätigkeiten des Ehrenamtes neben neuen Formen freiwil­ligen Engagements finden und teilweise verbinden. Die Motivlagen der freiwillig Engagierten zeigen eine Mischung aus Gemeinsinn und Eigen­nutz: In individuell spezifischen Kombinationen verbinden sich hier altruistische, religiös fundierte bzw. „republikanische“ Motive mit Lokalpatriotismus und nutzenorientierten Moti­ven wie dem Interesse an Lern- und Qualifikationsgewinnen, sozialen Kontakten und Gesel­ligkeit, der Wahrung von Status (bei Transitionen in Ruhestand oder Arbeitslosigkeit), sozia­ler Anerkennung und Prominenz sowie an Spaß. Mischungen sind auch kennzeichnend für das akteursspezifische Verhältnis zwischen beruflichen und freiwilligen Tätigkeiten, die zum Teil gleichzeitig und zum Teil im Wechsel ausgeübt werden. Die Studie läßt hier insgesamt sieben spezifische Karrieremuster erkennen.

 

Neben die derzeit zurücktretenden Formen traditionaler Vergemeinschaftung vor allem im Kontext des untersuchten christlichen Caritas-Milieus treten zunehmend neue Gemeinschafts­formen, die nicht dauerhaft vorgegeben, sondern individuell wählbar, zeitlich begrenzt und prinzipiell jederzeit zu verlassen sind. Vor allem die Entwicklung in der analysierten Bürger­stiftung zeigt an, dass bei aller Unverbindlichkeit gezielte Ritualisierungen von Geselligkeit diese posttraditionalen Gemeinschaften als Signum von Bürgergesellschaft bewusst konstruie­ren können. Als Preis für eine hohe projektorientierte Handlungseffizienz weist die Bürger­stiftung eine Partizipationsasymmetrie darin auf, dass neben Bildungs- und Sozialkapital auch ökonomisches Kapital vorhanden sein und investiert werden muss, um in den exklusiven Kreis der Stifter zu gelangen. Als Gegenmodell erweist sich eine andere, im Untersuchungs­zeitraum im Umfeld der Caritas gegründete Stiftung, die mit einer sozial wesentlich breiteren und offeneren Rekrutierungsstrategie die für die meisten Formen der „neuen“ Bürgergesell­schaft kennzeichnenden Partizipationsasymmetrien vermeidet.

 

Im Blick auf die Kooperation von Personen und Institutionen macht das Forschungsprojekt deutlich, dass die Größe der untersuchten Mittelstadt mit ca. 66.000 Einwohnern eine güns­tige Grundlage für flexible Vernetzungen und damit die Bildung sowie institutionelle Förde­rung von Vertrauen bereitstellt. Die auf die Ressource dieses Vertrauens gestützte politische Kooperationskultur stellt sich als ent­scheidender Faktor bei der Ermöglichung von Bürgergesellschaft heraus. Das für die Vernet­zung der verschiedenen Foren und Milieus der Bürgergesellschaft notwendige „bridging capital“ bilden nicht nur Brückenfiguren zwischen sozialen Szenen, sondern auch bürgergesellschaftliche „Multiplayer“ sowie mehrfach engagierte Ehegemeinschaften und Partnerschaften, die Verbindungen zwischen ansonsten einander fremden Kontexten herstellen.

Kontakt und weitere Informationen:


 

 
 
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